Mehr Ressource und weniger Verantwortung

– Die Feststellung des Anspruchs auf sonderpädagogische Förderung im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung (GE)

Zum problematischen Umgang der Schule mit einem Kind mit Autismus-Spektrum-Störung

Langtext des Beitrags als PDF: GE gleich mehr Ressource und weniger Verantwortung

Für Kinder mit Autismus-Spektrum-Störung hat die allgemeine Schule selten gute Lösungen. Gerade wenn es sich um Kinder handelt, deren autistische Ausprägung herausforderndes Verhalten sowie eine mangelnde Kommunikation und Interaktion aufweist, versucht die allgemeine Schule schnell, sich der eigenen Verantwortung für die Vermittlung von Bildung zu entziehen und verweist mehr oder weniger komplett auf die Sonderpädagogik.

Aber der Auftrag der Sonderpädagogik hat seine Grenzen. Auch die Sonderpädagogik bringt nicht die spezielle Expertise für Autismus mit, mit der sie das Kind so formen kann, dass es sich an den Regelbetrieb der allgemeinen Schule so anpasst, wie diese es erwartet. Der übliche Weg von Schule und Sonderpädagogik ist dann oft, die Eltern dazu zu überreden, den Anspruch auf sonderpädagogische Förderung im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung (GE) festzustellen, nur damit die allgemeine Schule mehr „Ressource“ in Form von 4,9 Stunden erhält, die eine Förderschullehrkraft mit im Unterricht ist.

Diese Feststellung ist aber das jeweilige Kind ein schwerer Eingriff in seine Persönlichkeitsrechte, denn mit dem Anspruch im Förderschwerpunkt GE bescheinigt eine Behörde offiziell das Vorliegen einer geistigen Behinderung. Viele dieser Kinder mit Autismus (gerade auch mit der Diagnose „frühkindlicher Autismus“) haben aber keine geistige Behinderung bzw. diese ist fachärztlich und diagnostisch nicht feststellbar. Diese Vorgehensweise verletzt aber nicht nur die Würde des Kindes, sie hat auch schwerwiegende Folgen für den weiteren Lebensweg und die Bildungschancen des Kindes. Mit dem Förderschwerpunkt GE wird das Kind auf den untersten Bildungsgang begrenzt, der keinen Lehrplan und keinen Abschluss hat, sondern nur lebenspraktische Fertigkeiten in einzelnen Kompetenzbereichen vermittelt und der heutzutage immer noch fast ausschließlich in die Werkstatt für behinderte Menschen (WfBM) führt. Stimmen die Eltern hier dem Förderschwerpunkt GE unkritisch zu, hat ihr Kind keinen gleichberechtigten Zugang zu Bildung mehr. Die Schule ist dann nicht mehr verpflichtet, dem Kind vorrangig die Bildungsinhalte wie Lesen, Schreiben, Rechnen (im Rahmen der individuellen Förderung) zu vermitteln, sondern kann das Kind mit Puzzlen, Malen, Kneten o.ä. „beschäftigen“.

Gemeinsam leben Hessen e.V. ruft dazu auf, verantwortungsvoll mit der Etikettierung durch den Förderschwerpunkt GE umzugehen, gerade wenn es sich um ein Kind am Schulanfang handelt und noch nicht absehbar ist, wie es sich entwickeln wird. Die Anmerkungen zur Frage „Mehr Ressource und weniger Verantwortung“ diskutieren das Problem am Beispielfall eines Schülers mit Autismus-Spektrum-Störung in der Eingangsstufe einer hessischen Grundschule. Ziel ist es ein Bewusstsein für die Ambivalenz und die Gefahr von Diskriminierung zu schaffen sowie mögliche pädagogische und fachdidaktische Lösungswege im Rahmen des Schulrechts aufzuzeigen.

Damit Schüler*innen mit Autismus erfolgreich und gleichberechtigt Zugang zu Bildung erhalten können, muss das System Schule umdenken. Nicht das Kind kann seine Behinderung überwinden, sondern die bestehenden Barrieren in Schule müssen so weit wie möglich ausgeräumt werden.

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