Liebe Betroffene und Interessierte in Sachen Inklusion in Kreis Bergstraße,
das Jugendamt Kreis Bergstraße hat ein "internes Arbeitspapier" erstellt (in seiner Funktion als Träger der Eingliederungshilfe ), in dem beschrieben wird, welche Vorgaben bei Gewährung von Eingliederungshilfe seit dem 1.2.2022 angeblich gelten sollen. Die dort beschriebene Vorgehensweise entspricht nicht den Vorgaben des Sozialgesetzbuches.
Nach unserer Auffassung enthält das „interne Arbeitspapier“ so viele Fehler, dass es keinerlei Wirkung entfalten kann. Wenn der Kreis Bergstraße die dort beschriebenen Regeln durchsetzen will, werden systematisch die Rechte der betroffenen Kinder missachtet. Die Sorgeberechtigten (meist also die Eltern) betroffener Kinder sollten gegenüber dem Jugendamt immer auf der individuellen Prüfung des Einzelfalss und der Ausarbeitung eines Gesamtplans bestehen!
Laut Aussage des Amtsleiters seien
"diese Verfahrensrichtlinien ... auch mit dem staatlichen Schulamt abgestimmt." (Mail vom 9.3.2022)
– umso schlimmer, wenn auch dieser Behörde die Gesetzesverstöße nicht auffallen.
Nicht beachtet hat der Kreis Bergstraße vor allem das sozialrechtliche Leistungsdreieck, nach dem die Leistungen der Eingliederungshilfe zwischen dem Kostenträger (Jugendamt), Leistungsbrechtigtem (Sorgeberechtigte in Vertretung ihres Kindes) und dem Leistungserbringer (Arbeitgeber der Schulassistenz) abgestimmt werden. Schule und Schulamt kommen im SGB also gar nicht vor. Wenn hier also rechtlich fragwürdige Vorgehensweisen zwischen zwei Behörden (Jugendamt und Staatliches Schulamt) zum Nachteil von Dritten (betroffene Kinder / Eltern) "abgestimmt" werden, dann ist das inakzeptabel (vgl. auch UN-BRK: "Nicht ohne uns über uns"!).
Vom Amtsleiter des Jugendamtes erhielten wir immerhin die Zusage:
"Wir werden die Bewilligung der Egh Leistungen auch zukünftig nach den Vorgaben des SGB VIII und IX durchführen. Und wenn Sie das Papier richtig lesen würden, so würden Sie auch lesen, dass von der 80% Regelung auch abgewichen werden kann." (s. Mail vom 9.3.2022)
Wozu also ein solches Papier, wenn davon nicht nur abgewichen werden "kann", sondern nach den Standards unseres Rechtsstaates auch in jedem Fall abgewichen werden muss?
- Zitat: Bei inklusiver Beschulung: Einschätzung der Schule, ob schulischer Bedarf des Kindes/Jugendlichen inklusiv umgesetzt werden kann oder ob aus schulischer Perspektive eine Förderschule zielführender ist
Falsch: Die Schule hat nicht einzuschätzen, ob die "Förderschule zielführender" ist. Das Hessische Schulgesetz schreibt die inklusive Beschulung in der allgemeinen Schule als Regelform vor (§ 51 Abs. 1 HSchG).
- Zitat: Keine Finanzierung von Homeschooling!
Falsch: die individuelle Hilfe zur Teilhabe an Bildung nach dem SGB ist an das Kind und nicht an den Ort der Beschulung gebunden. Wenn die Schule als „Distanzunterricht“ zu Hause stattfindet, muss auch die Assistenzkraft dorthin. Das wurde übrigens von den hessischen Ministerien während der Pandemie sehr schnell klargestellt. Echtes „Homeschooling“ (durch die Eltern) gibt es übrigens in Deutschland nicht, nach Art. 7 GG steht das Schulwesen unter Aufsicht des Staates.
- Zitat: in Grundschulen sowie 5. + 6. Klasse: ... Kind startet ohne THA, da der Einsatz der schuleigenen Instrumente vorrangig zu prüfen ist und diese abgewartet werden
Falsch: Die Eingliederungshilfe hat den Bedarf nach Antragstellung unverzüglich und fristgerecht zu ermitteln und die notwendige Hilfe umgehend zu leisten. Vgl. u.a. § 120 Abs. 4 SGN IX: "Im Eilfall erbringt der Eingliederungshilfeträger die Leistungen vor Beginn der Gesamtplankonferenz vorläufig; der Umfang der vorläufigen Gesamtleistung bestimmt sich nach pflichtgemäßen Ermessen." Wenn der Bedarf in der ersten Klasse vorliegt, dann muss auch die Eingliederungshilfe gewährt werden – umgehend, nicht nach „abwarten“!
- Zitat: 1.1.3 Umfang der THA: Maximal 80% der Unterrichtszeit (nach Stundentafel) befristet auf ein Schuljahr. (20% werden hier als regelhafte Leistungen der Schule im Rahmen ihres Inklusionskonzeptes vorausgesetzt)
- Zitat: in Mittelstufe/Oberstufe (d.h. ab 7. Klasse) THA nach SGB IX: Aufgrund der Beeinträchtigungsformen wird für Kinder und Jugendli-che mit Behinderung nach SGB IX hier keine Änderung vorgenom-men, sondern wie unter Punkt 1.1.3 verfahren
- Zitat: Ergänzung für SGB VIII: Auftrag an LE, die Handlungsziele so zu erarbeiten, dass Leistung stufenweise reduziert werden kann
o 1. Bewilligung 80%
o 2. Bewilligung 70%
o 3. Bewilligung 60%
o 4. Bewilligung 50%- Zitat: in Mittelstufe/Oberstufe (d.h. ab 7. Klasse) THA nach SGB IX: Aufgrund der Beeinträchtigungsformen wird für Kinder und Jugendliche mit Behinderung nach SGB IX hier keine Änderung vorgenommen, sondern wie unter Punkt 1.1.3 verfahren
Falsch: Eine pauschalisierte Bewilligung von nur 80% der Leistung ist rechtswidrig. Die Leistung muss in jedem Einzelfall bedarfsdeckend und personenzentriert bewilligt werden. Es besteht ein Rechtsanspruch auf die vollumfängliche Leistung für jedes einzelne Kind. Vgl. die laufende Rechtsprechung: Bei der Gewährung der Hilfe liegt ein individualisiertes Förderverständnis zugrunde ("nach der Besonderheit des Einzelfalles"). (Bndessozialgericht, Urteil vom 18.07.2019 - B 8 SO 2/18 R)
- Zitat: Gruppeninklusive Beschulung (Förderschwerpunkt GE) nach SGB IX (GiB)
o Bedarf wird bereits über das Gremium SmiLe eruiert und die Verfahren wie in 1.1.1 in die Wege geleitet
o Teilnahme am Förderausschuss ist unter Einbindung von Teamleitung verpflichtend einzufordern.
o Das Päd. Team gibt Auftrag an den Leistungserbringer (LE), ein Konzept für die GiB zu erarbeiten, mit schriftlichem Rücklauf an die EGH über das Ergebnis innerhalb des ersten Monates.
Falsch: Ein "gruppeninklusives" Modell hebt nicht den individualrechtlichen Anspruch des einzelnen Kindes auf. Der Eingliederungshilfeträger bleibt nach wie vor verpflichtet das sozialrechtliche Leistungsdreieck und das zwingend vorgeschriebene Bedarfsermittlungsverfahren unverzüglich, unkompliziert und Absprache mit den Eltern zu beachten. D.h. auch bei jedem "Pool-Modell" muss zunächst festgestellt werden, wie die Teilhabeziele für das einzelne Kind aussehen, welche Aufgaben die Schulassistenz zu übernehmen hat und dass der individuelle Bedarf gedeckt wird. Es ist also auch dabei zwingend der Gesamtplan gemeinsam mit den Eltern zu erstellen.
Für weitere Informationen stehen wir zur Verfügung. Gern begleiten wir die Geamt/Hilfeplanverfahren im Einzelfall.
Viele Grüße
Dorothea Terpitz
Vorsitzende Gemeinsam leben Hessen e.V.
069-83008685
Kontakt zur Beratungsstelle
Frauke Ackfeld
beratung@inklusion-hessen.de
Weberstraße 7
60318 Frankfurt am Main
069 - 15325569
Esma Raouafi-Pala
esma.pala@inklusion-hessen.de
0176 - 43415927
https://gemeinsamleben-hessen.de/de/inklusive-beratung-und-koordination