Anhängige Dienstaufsichtsbeschwerde – Schulamtsbezirk Frankfurt am Main

Frankfurt

Gemeinsam leben Hessen e.V. hatte im Falle eines behinderten Schülers aus Frankfurt am Main zwei Dienstaufsichtsbeschwerden gegen Personen eingelegt, weil sie aus unserer Sicht Dienstpflichten aus ihrem Beamtenverhältnis, insbesondere jedem Kind die bestmögliche Bildung zukommen zu lassen, aus den Augen verloren hatten. Beide Beschwerden wurden – nach monatelanger Wartezeit – nun in einer Weise bearbeitet, die nicht nur jeden Respekt gegenüber dem betroffenen Kind und seinen Eltern vermissen lässt. Vielmehr erzeugen die gelieferten Antworten grundlegende Zweifel daran, dass man sich beim Staatlichen Schulamt Frankfurt überhaupt an die geltende Rechtslage halten möchte. Die „gemeinsame Verteidigung“ des Personals des Staatlichen Schulamts Frankfurt gegen die Versuche des Kindes, zu seinem Recht zu kommen, hat hier offenbar die Oberhand gewonnen gegenüber den Prinzipien der Rechtmäßigkeit und Transparenz der Verwaltung.

Hintergrund: Es ist uns bewusst, dass unsere Dienstaufsichtsbeschwerden nur im Rahmen des Petitionsrechts (Art. 17 GG) behandelt werden. Das heißt, wir können unsererseits nicht durchsetzen, dass die Schulverwaltung sich inhaltlich mit dem Thema beschäftigt oder sich überhaupt mit unseren Argumenten auseinandersetzt. Wenn wir allerdings eine Antwort bekommen, die sich dem äußeren Anschein nach mit unseren Beschwerden und Argumenten auseinandersetzt, dann sollten in dieser allgemeine Regeln des Verwaltungsrechts und die Regeln des Beamtenrechts beachtet werden: seitens der Verwaltung müssten Fakten wahrheitsgemäß dargestellt werden und Rechtsvorschriften so angewendet werden, wie sie sonst in Hessen auch gelten. Der konkrete Vorgang fügt sich in eine Reihe von Streitpunkten mit dem Staatlichen Schulamt Frankfurt ein, etwa zu Fragen der Transparenz des Verwaltungshandelns (keine Protokolle) oder Abweichung von der sonstigen hessischen Verwaltungspraxis (etwa Fortschreibungen statt Überprüfungen).

Position von Gemeinsam leben Hessen e.V.: Beide Vorgänge befinden sich nun als „weitere Beschwerde“ beim Kultusministerium. Unser Ziel als Interessenverband von Eltern behinderter Kinder ist es, auch im Staatlichen Schulamt Frankfurt am Main wieder zu einem grundsätzlich transparenten und verlässlichen Verwaltungshandeln im Interesse der bestmöglichen Bildung für die betroffenen Kinder zu kommen. Herablassendes Verhalten gegenüber Eltern, Uminterpretation von Fakten, Ablehnung aller Experten, die nicht beim Staatlichen Schulamt Frankfurt arbeiten, Dauertestungen von behinderten Kindern (bis irgendwann ein dem Staatlichen Schulamt Frankfurt genehmes Ergebnis herauskommt) – das sind alles keine Punkte, die uns diesem Ziel näher bringen.

Ausgangspunkt: Beschulung eines Kindes im Bildungsgang „GE“ ohne förmliche Feststellung (und ohne nachweisbare geistige Behinderung)

Ein Kind mit verschiedenen Einschränkungen (u.a. kaum Hörfähigkeit, verschiedene körperliche Behinderungen, ADHS, Trisomie 21) wurde an der Förderschule für „Hören“ seit seiner Einschulung bereits mehr als fünf Jahre im Bildungsgang „GE“ unterrichtet. Das hierfür erforderliche Feststellungsverfahren war aber nicht durchgeführt worden. Durch die Schule wurde die Unterrichtung in „GE“ regelmäßig ohne weitere Feststellungen „fortgeschrieben“. Eine klare Diagnose einer „geistigen Behinderung“ liegt nicht vor, dafür aber einige Gutachten, die einen IQ von größer als 70 feststellen, bzw. einen Förderanspruch im Bereich „Lernen“.

„GE“ steht schulrechtlich dafür, dass das betreffende Kind geistig behindert ist (§ 50 Abs. 3 Hess. Schulgesetz), das Bildungsangebot für die Kinder ist in diesem Bildungsgang daher deutlich reduziert. „GE“ darf deshalb nur dann festgestellt werden, wenn auch tatsächlich eine geistige Behinderung vorliegt („GE-Erlass“ des Kultusministeriums von 2019/2020), entsprechend gängiger Klassifikation (ICD 10) ist die Unterschreitung eines IQ von 70 eine maßgebliche Schwelle für die Feststellung einer geistigen Behinderung. Zudem muss die Feststellung des Förderbedarfs spätestens alle zwei Jahre überprüft werden (§ 11 VOSB).

Hintergrund: in der Vergangenheit wurde die Grenze gerne „pragmatisch“ gezogen, so dass Kinder, die der Schule irgendwie nicht lernfähig vorkamen, durchaus jahrelang in „GE“ untergebracht wurden. Man argumentierte mit kleineren Gruppen und individuelleren Betreuungsmöglichkeiten. Inzwischen ist geklärt, dass hieraus sogar ein Anspruch auf Schadenersatz entstehen kann, weil nicht nur allgemeine Bildungschancen, sondern unter anderem ganz konkret berufliche Chancen der betroffenen Kinder zerstört werden (siehe Fall „Nenad“ – LG Köln 5 O 182/16 – openjur.de/u/2152338.html).

Sichtweise Gemeinsam leben Hessen e.V.: Die zuständige Dezernentin wäre verpflichtet, durch organisatorische Vorgaben, und durch Korrekturen bei fehlerhaften Entscheidungen der Schulleitungen, für die Durchsetzung des geltenden Schulrechts in ihrem Schulamtsbezirk zu sorgen. Alle Fälle der tatsächlich laufenden Beschulung in „GE“ müssen beendet werden, wenn keine eindeutig festgestellte „geistige Behinderung“ vorliegt. Einfache „Fortschreibungen“ der festgestellten Förderbedarfe müssen ersetzt werden – durch eine individuelle Betrachtung des jeweiligen Kindes.

Endlich eine Überprüfung, Bescheid …

Auf Drängen der Mutter wurde im Herbst 2018 endlich die Überprüfung in Gang gesetzt, nachdem das Gutachten einer Spezialistin einen IQ oberhalb von 70 ergeben hatte. Das daraufhin nach etlichen Monaten im benachbarten Schulamtsbezirk (Wohnort des Kindes) erstellte sonderpädagogische Gutachten (im Sommer 2019) endete mit der Empfehlung, den Förderschwerpunkt „Lernen“ festzustellen und das Kind entsprechend zu beschulen. Dieses Ergebnis gefiel der Schulleitung jedoch nicht, sie lehnte die Überprüfung ab, und so landete der Fall beim Staatlichen Schulamt Frankfurt.

Mit den zwei vorliegenden Gutachten (psychologisch / sonderpädagogisch) war die Sache zur Entscheidung reif. Die zuständige Dezernentin entschied jedoch zunächst einmal gar nicht. Später im Jahr gab sie bei der eigenen Schulpsychologin des Staatlichen Schulamts Frankfurt eine weitere Untersuchung in Auftrag. Deren Stellungnahme umfasste allerdings weder einen abweichenden IQ-Test noch eine irgendwie auf Beschäftigung mit dem Kind beruhende pädagogische Bewertung. Im Februar 2020 erging dann endlich der Bescheid, allerdings gegen das Kind: völlig unabhängig von den Regeln des GE-Erlasses wurde der Förderschwerpunkt „GE“ festgesetzt.

Hintergrund: Es ist leider deutlich schwieriger, faktisches Tun der Schule anzugreifen als förmliche Bescheide: es ist zwar seitens der Schule nicht korrekt, ohne förmliche Feststellung einfach einen niedrigeren Bildungsgang anzuwenden, aber solange bei der Verwaltung tatsächlich an der Überprüfung gearbeitet wird, kann man ihr schlecht „Nichtstun“ vorwerfen. Hier haben Schulleitungen, für die das Schicksal der einzelnen Kinder nicht so einen hohen Stellenwert hat, zunächst einen Vorteil – allerdings gäbe es dafür ja die Schulaufsicht durch das Staatliche Schulamt.

Sichtweise Gemeinsam leben Hessen e.V.: Die zuständige Dezernentin im Staatlichen Schulamt Frankfurt wäre verpflichtet, das Schulrecht zu beachten und rechtswidrige Zustände wie die grundlose Unterrichtung in „GE“ zunächst einmal sofort zu beenden (Aufsicht über die Schulen!). Bei inhaltlichen Zweifeln hat die Schule selbst zu jeder Zeit die Möglichkeit, wieder eine neue Überprüfung in Gang zu setzen und mit ihren eigenen Pädagog:innen herauszuarbeiten, wie das betroffene Kind am besten zu fördern ist. Die Dezernentin wäre auch gehalten, sowohl fachliche Gutachten externer Spezialisten als auch Gutachten von Kolleg:innen aus anderen Schulamtsbezirken zu respektieren. Es gibt keine anerkannte Regel, wonach sie solche „fremden“ Feststellungen aufgrund „hauseigener“ einfach verwerfen dürfte. Das erzeugt lediglich den Eindruck, dass „der Bürger“ im Zweifel ohnehin nichts zu sagen haben soll, und um das betroffene Kind geht es schon gar nicht. Monatelange Verzögerungen und Entscheidungen, die in solcher Weise „freestyle“ am Gesetz vorbeigehen, helfen am Ende auch der Schule nicht, die in dem betroffenen Kind unbedingt einen „GE“-Kandidaten sehen will.

... und Eilrechtsverfahren bis zum Verwaltungsgerichtshof

Nachdem der Bescheid endlich vorlag, konnte das Verwaltungsgericht angerufen werden, mit Antrag auf einstweilige Anordnung. In der ersten Instanz wurde diese zwar noch nicht gewährt, möglicherweise weil das Gericht sich nicht genug Zeit genommen hatte, sich mit der Rechtslage wirklich zu beschäftigen, aber auch, weil es von dem Vortrag des Staatlichen Schulamts Frankfurt in die Irre geleitet wurde.

In der zweiten Instanz erließ dann der Verwaltungsgerichtshof (VGH) durch Beschluss im September 2020 die Anordnung, dass das Kind (einstweilen) im Förderschwerpunkt „Lernen“ unterrichtet werden muss (7 B 1568/20 – openjur.de/u/2272867.html). In seinem Beschluss hat der VGH dem Staatlichen Schulamt Frankfurt erläutert, wie Schulrecht und GE-Erlass zu verstehen und anzuwenden sind, und er hat außerdem festgestellt, dass das Staatliche Schulamt Frankfurt keinen nachvollziehbaren Anhaltspunkt dafür geliefert hatte, dass der IQ niedriger als 70 sein könnte.

Hintergrund: Weil vollständige verwaltungsgerichtliche Verfahren häufig viele Jahre dauern, wurde zunächst der Eilrechtsschutz gewählt, mit einem Antrag auf einstweilige Anordnung.

Position Gemeinsam leben Hessen e.V.: Wir finden es erschreckend, dass es volle zwei Jahre dauern musste, bis die „Überprüfung“ einer nur faktisch, ohne förmliche Feststellung, eingeführten Beschulung in „GE“ endlich in der Weise Erfolg hatte, dass die Schule nun in „Lernen“ unterrichten muss. Bedenklich ist auch, dass nur ein langes gerichtliches Verfahren zum Erfolg führt – denn viele Eltern schrecken vor der Anrufung eines Gerichts dann doch zurück, oder sie haben auch nicht die finanziellen Mittel dafür: selbst im Erfolgsfall ersetzt die Staatskasse nicht die echten Kosten der anwaltlichen Beratung.

Schulleitung und Staatliches Schulamt Frankfurt kämpfen weiter für die eigene Position statt für das Kind

Trotz des eindeutigen Beschlusses des Verwaltungsgerichtshofs will die Dezernentin weiterhin keinen Bescheid zu Gunsten des Kindes erlassen. Auch die Schule ist weiterhin nicht mit der Verpflichtung zum Unterricht in „Lernen“ zufrieden. Deshalb bleibt das gerichtliche Hauptsacheverfahren weiter anhängig. Eltern und Kind müssen sich ständig weiter mit dem gerichtlichen Verfahren beschäftigen.

Das Staatliche Schulamt Frankfurt weist uns gegenüber allen Ernstes darauf hin das Recht zu haben, den Bürger mit verwaltungsgerichtlichen Verfahren belasten zu dürfen, weil das „prozessual“ nicht von vornherein ausgeschlossen ist. Außerdem solle das Kind noch mehr getestet werden. Man geht irgendwie davon aus, nach dem Eilverfahren stehe es „eins zu eins“ – dabei hat der Verwaltungsgerichtshof die unzutreffende erstinstanzliche Entscheidung eindeutig aufgehoben. Inzwischen wurden weitere sonderpädagogische Gutachten (auch zur Körperbehinderung) erstellt, und das Niveau des IQ im Großen und Ganzen bestätigt. Leider verfolgt das Staatliche Schulamt Frankfurt auch weiterhin seine bereits bekannte Strategie: Sachverständige, die nicht in demselben Schulamt arbeiten, können offenbar nichts gelten, und so werden wiederum innerhalb derselben Behörde „Stellungnahmen“ erzeugt (und dem Gericht vorgelegt!), die die detaillierten und nach echter Beschäftigung mit dem Kind entstandenen Gutachten angreifen und irgendwie widerlegen sollen. Ziel der eigenen Stellungnahmen ist eine rein defizitäre Darstellung, um damit die Einstufung des Kindes in „GE“ zu erreichen.Die eigene Glaubwürdigkeit versucht man damit herzustellen, dass die Dezernentin neben der eigenen noch zwei weitere Stellungnahmen durch ihren Leuten generiert, die sich zirkular aufeinander beziehen, in der Sache jedoch keine neuen Erkenntnisse bringen.

Hintergrund: Formell handelt es sich bei der einstweiligen Anordnung durch Gerichtsbeschluss um keine endgültige Entscheidung (das wäre dann ein Urteil), weil „Feststellungen zur Sache“ eines Hauptsacheverfahrens nur sehr limitiert getroffen werden. Das heißt, die Rechtsfragen (insbesondere keine geistige Behinderung bei IQ über 70) sind zwar abschließend geklärt, die Tatsachen könnten jedoch theoretisch noch weiter untersucht werden.

Position Gemeinsam leben Hessen e.V.: Wir gehen davon aus, dass die Fakten (verschiedene Gutachten, die einen IQ über 70 belegen) zusammen mit dem GE-Erlass gar keinen anderen Weg lassen, als den früheren Bescheid aufzuheben. Die möglicherweise vorher im SSA Frankfurt noch bestehende „Unsicherheit“ über die Anwendung der Kriterien aus dem GE-Erlass hat der VGH in seinem Beschluss umfassend ausgeräumt und außerdem festgestellt, dass die zu dem Zeitpunkt bekannten Fakten den Förderschwerpunkt GE nicht begründen können. An der Faktenlage hat sich im Verlaufe der Bearbeitung nichts mehr geändert, ein IQ verändert sich auch nicht einfach so. Dass das Staatliche Schulamt Frankfurt für sich in Anspruch nimmt, durch Fortführung des gerichtlichen Verfahrens gegen die betroffenen Kinder arbeiten zu dürfen (nur „weil es geht“?) ist befremdlich. Die rein defizitäre Sichtweise der eigenen Stellungnahmen zeigt ein Stimmungsbild im Staatlichen Schulamt Frankfurt, die für die Garantie der bestmöglichen Bildung nichts Gutes verheißt.

Fehlendes Bewusstsein für schulrechtliche und beamtenrechtliche Pflichten

Position Gemeinsam leben Hessen e.V.: Für die Belegschaft des Staatlichen Schulamts Frankfurt gilt Beamtenrecht. Wir halten es für eine grundlegende persönliche Pflicht jeder einzelnen der handelnden Personen im Staatlichen Schulamt Frankfurt (und in den Schulen), sowohl § 1 Abs. 1 Satz 1 des Hess. Schulgesetzes:

Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Bildung

als auch § 1 Abs. 2:

... dürfen weder Geschlecht, Behinderung, Herkunftsland oder Religionsbekenntnis ... bestimmend sein.

in der Realität umzusetzen. Denn sie sind nach § 36 BeamtStG jeweils persönlich für die Rechtmäßigkeit ihres amtlichen Handelns verantwortlich. Diese persönliche Pflicht müsste jede einzelne Person gemäß § 36 Abs. 2 BeamtStG im Zweifel auch dann umsetzen, wenn entgegenstehende Anweisungen „von oben“ erteilt wurden.

Vor diesem Hintergrund halten wir es für äußerst bedenklich, dass innerhalb des Schulamts wohl eine Art Grundstimmung „wir gegen die“ entstanden ist: man stützt sich, soweit ersichtlich, gegenseitig und schottet sich gegenüber der „feindlichen“ Welt der betroffenen Kinder, Eltern und externen Gutachter ab. Dabei geraten pädagogische Prinzipien leider ebenso unter die Räder wie das Schulrecht oder einfache Prinzipien wie das Vertrauen in eine von Achtung und Aufrichtigkeit geprägte Verwaltung.

Leidtragende sind die betroffenen Kinder, die nicht das Bildungsangebot erhalten, das ihnen zugestanden hätte.

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